Eineinhalb Jahre lang habe ich sie durch alle Lebenslagen begleiten dürfen. Immer wieder war ich erstaunt von ihrem Lebensmut, ihrer Neugierde nach vorn und dem Willen zur Selbstreflektion – und das mit 90 Jahren.

In jungen Jahren hatte sie eine Verabredung mit einer Freundin. Wer zuerst sterben würde und auf der anderen Seite alles in Ordnung fände, sollte die grüne Turnhose raushängen. Mit ihrem Mann hatte sie bereits vor Jahren immer wieder darüber gesprochen, wie es wohl sein würde, welche Wünsche und Vorstellungen er und sie hatten. Tod und Sterben war immer ein selbstverständliches Thema für sie.

So war es beim Tod ihres Mannes auch selbstverständlich für sie, ganz in Ruhe neben ihm eine Stunde sitzen zu bleiben, bevor sie dem Krankenhauspersonal Bescheid sagte. Ebenso selbstverständlich teilte sie mir am nächsten Morgen mit, sie wolle ihren verstorbenen Mann gern selbst waschen und ankleiden,. Ich besprach alles notwendige mit ihr, dem Krankenhaus und dem Bestatter. Wir packten Kleidung, Lieblingsseife und den persönlichen Badeschwamm ein. Wohl wissend, dass der Tag lang werden würde, packte ich noch ein Picknick, das wir dann zum Erstaunen des Bestatters zwischen Formalitäten und der Totenwäsche im Besprechungsraum aßen.

Sie war bereit, sich über Konventionen und starre Muster hinwegzusetzen.

So auch, als die Beerdigung ganz anders verlief als geplant, da versehentlich ein falsches Grab geöffnet wurde. Da trat sie an den Sarg und sagte laut und deutlich: „Lieber Rolf. Du bist so gern auf Reisen gegangen. Nun wirst Du noch ein letztes Mal auf Reisen gehen, damit Du in das richtige Grab kommst.“ Das darauf folgende Lachen aller Anwesenden hob die Stimmung, was besonders die Witwe freute. Hatte sie mir doch vorab anvertraut, dass ihr besonders vor der Grabesstimmung der Kondolierenden grauen würde.

Bereits Tage später überlegte sie sehr konkret, wie sie die Räume des Hauses nun ganz für sich einnehmen könnte. Schwungvoll packte sie einige Veränderungen an. Nie war sie dabei pietätlos, sondern entfernte und veränderte Dinge, die überflüssig geworden waren ohne ihren Mann. Gleichzeitig „plünderte“ sie ungeniert alle Fotoalben und stellte daraus 2 Kalender voller Fotos von sich und ihrem Mann zusammen. So erinnerte sie sich bei jedem Vorbeigehen an all die Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten. Ihre Ehe hatte 60 Jahre gedauert und keine Kinder hervorgebracht.Sie fing an,sich nach jahrzehntelanger Nachbarschaft mit den Nachbarn zu duzen und unternahm Ausflüge in Restaurants und zu einem Jazzfestival zusammen mit ihrem Lieblingsneffen. Als ehemalige Lehrerin traf sie sich mit einer Gruppe ihrer Schülerinnen, die ganz begeistert waren von ihrem immer noch wachen und wissbegierigen Geist und dem stets vorhandenen Willen zur Selbstreflektion.

8 Monate später rief mich eine Nachbarin an, da die Jalousien um die Mittagszeit immer noch unten waren. Mit meinem Schlüssel öffnete ich die Tür und fand sie im Wohnzimmer auf dem Fernsehsessel. Der Fernseher lief noch. Ich hätte ihr und mir gewünscht, sie tot zu finden, doch sie atmete noch und war ansprechbar, wenngleich sofort erkennbar war, dass sie einen schweren Schlaganfall gehabt haben musste. Den Indizien nach lag das Ereignis bereits 20 Stunden zurück.

Wenige Monate zuvor hatte sie mir als von ihr engagierte Altenpflegerin und Haushaltshilfe eine gesundheitliche Vorsorgevollmacht ausgestellt. So konnte und musste ich nun für sie handeln. Da weder medikamentös noch operativ der Zustand des Gehirns verbessert werden konnte, stand die Frage im Raum, ob sie weiter leben wollte. Sollte ich für sie entscheiden müsse, war ich mir sicher, dass sie den Weg in den Tod wünscht. Sobald ich bei ihr im Krankenhaus ankam, stellte ich ihr ganz konkret und direkt die Fragen: „Möchten sie Reha, künstliche Ernährung und vielleicht einen langwierigen Weg zur Verbesserung der halbseitigen Lähmung? Oder, möchten sie in Ruhe sterben dürfen und damit zu Ihrem Mann? Ihre trotz schwerster Sprachschwierigkeiten verständliche Antwort erstaunte mich. Sie sagte:“Ich wähle das Leben!“ So wurde die Palliativbetreuung abgebrochen und mit Therapie begonnen.

Egal wo das Leben sie hinstellte, sie machte an genau dem Punkt weiter. Ohne Bedauern, ohne Verzagen. Noch in der Reha bekam sie eine Blutvergiftung. Mit dem Umzug in ein Heim lag sie sich an zwei Stellen durch. Sie überstand eine Lungenentzündung und schaffte schließlich noch, einen meldepflichtigen Durchfallkeim nach drei Monaten Dauer zu besiegen.

8 Monate nach dem Schlaganfall starb sie zu einem Zeitpunkt, als niemand damit rechnete. Der Arzt, der den Totenschein ausstellte, meinte, der Herzklappenersatz, der von einem Schwein stammte, könnte durch die Belastungen versagt haben.

In all den Monaten habe ich sie nie resigniert gesehen. Sie hat stets ihren Geist benutzt, um über die Situation anderer nachzudenken. Sie liebte es Gespräche zu führen auch wenn ich dafür vorher eine halbe Stunde lang ihren trockenen Mund befeuchten und reinigen musste, um dann halb zuhören, halb von den Lippen ablesen zu können.

Als ehemalige Deutsch- und Englischlehrerin ließ sie sich !Literatur! Vorlesen. Noch drei Wochen vor ihrem Tod wählte sie ein Buch von Salman Rushdie mit der Begründung „Ich habe das Buch geschenkt bekommen. Da sollte ich es wenigstens einmal gelesen haben“. Mit dem Pflegepersonal sprach sie gelegentlich englisch.

Irgendwann fing sie an, sie bei Allen für ihre Bemühungen zu bedanken. Nachdem ich einige Herzenslieder für sie gesungen hatte, sagte sie zu mir:“ Sie haben mich glücklich gemacht“.

So sang ich denn auch auf ihrer Beerdigung.

Stille

Komm hernieder, bring mein Herz zur Ruh.

Deine Schwingen decken alle Wünsche zu.

Nur der eine allein

Soll der Wunsch meines Herzens sein.

Mein Wunsch ist es…

auch einmal mit einer solchen Gelassenheit dort weiterzumachen, wo mich das Leben gerade hinführt, und den eigenen Tod als letzten Schritt des Lebens als selbstverständlich zu nehmen.

Wenn dann irgendwann,…   irgendwo,…   eine grüne Turnhose hängt……..

Erschienen in den LichtSeiten September/Oktober/November 2018